Rezension von Brügge


(Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, das uns freundlicherweise von Hans im Glück bereitgestellt wurde.)

Rezension

Brügge
Der Schulleiter an Stefan Felds Schule scheint ein wahrer Workaholic – und darüber hinaus im letzten Jahr nicht oft krank gewesen zu sein. Der Spieleautor und stellvertretende Schulleiter Stefan Feld scheint jedenfalls genügend Zeit gefunden zu haben, um an seinen Spieleideen zu werkeln. Mit "Rialto", "Bora Bora" und "Brügge" hat er wieder einige Schwergewichte dieses Jahr herausgebracht. Auch wenn wir uns nicht in die privaten Angelegenheiten von Feld einmischen wollen, im Hinblick darauf, dass die Schulleiter landauf, landab über ihre enorme und kaum zu bewältigende Arbeitsbelastung klagen, wünschen wir Herrn Feld ganz uneigennützig, dass er noch eine ganze Weile "nur" die zweite Pfeife in seinem Schulorchester spielen darf, ansonsten müsste eventuell befürchtet werden, dass eine der momentan gefragtesten Solostimmen in der Spieleautorenzene einen Gang herunterfahren müsste – zumindest für uns Spielende nicht die beste Vorstellung.

Thema & Ziel des Spiels
Wir befinden uns in der mittelalterlichen Stadt Brügge. In der aufstrebenden Metropole Europas des 15.Jahrhunderts wollen wir uns in den Rollen der dortigen Menschen in der Stadt Macht und Einfluss sichern: Im Rathaus, beim Errichten von Kanälen und bei den Mehrheiten in den Handwerkszünften.

Spiel-Vorbereitungen
Die Personenkarten werden gemischt und in fünf gleich hohen Stapeln bereitgelegt. So viele Stapel wie Spielende werden noch einmal ineinander gemischt und daraus zwei gleich hohe Stapel gebildet, die mit der Häuserseite nach oben zeigen. Jeder Spielende erhält von den HandlangerFiguren je einen jeder Farbe, drei Gulden und das Spielmaterial der jeweiligen Farbe. Jede/r stellt seine Startfigur auf das Feld der Zählleiste 5, die zweite Spielfigur ins Rathaus und besetzt mit seinem Marker eines der vier Stadttore.

Spielablauf
Reihum werden in jeder Spielrunde immer folgende Phasen abgehandelt: 1. Jede/r zieht von den Personenkarten vier Karten nach. 2. Der/die Startspieler/in der jeweiligen Runde würfelt die fünf farbigen Würfel. Für jede gewürfelte Fünf und Sechs einer Farbe erhalten die Spielenden einen Bedrohungsmarker der jeweiligen Farbe. Die Summe der der gewürfelten Einsen und Zweien wird addiert. Beginnend vom Startspieler dürfen die Spielenden für diese Summe eine Stufe im Rathaus aufsteigen. 3. Reihum spielt jede/r eine seiner Personenkarten aus und nutzt sie als eine der folgenden Möglichkeiten:

a) Handlanger in der jeweiligen Kartenfarbe erhalten. b) Anzahl an Gulden der gewürfelten Augenzahl des Würfels der jeweiligen Kartenfarbe erhalten. c) Bedrohungsmarker der jeweiligen Kartenfarbe zurücklegen und einen Siegpunkt erhalten. d) Ein Kanalplättchen angrenzend zu seinem Stadttor oder letzten Kanalplättchen in der Kartenfarbe legen und die aufgedruckte Summe Gulden bezahlen. e) die Personenkarte mit der Rückseite als Haus offen vor sich ablegen und einen Handlanger in der jeweiligen Kartenfarbe bezahlen. f) die Personenkarte auf ein eigenes freies Haus ablegen und die Anzahl Gulden links oben auf der Karte bezahlen (und eventuell eine mögliche Sofortfunktion der Person ausführen).

Vor und/oder nach jedem Ausspielen von Karten können die Sonderfunktionen der ausgelegten Personen genutzt werden (Blitz = Die Funktion wird sofort und nur ein einziges Mal ausgeführt; Handlanger = Die Funktion kann einmal pro Runde durch einen Handlanger der jeweiligen Farbe aktiviert werden; Unendlichkeitszeichen = Die Funktion kann einmal pro Rundegenutzt werden; Lorbeerkranz = Die Funktion wird am Spielende bei der Punktewertung genutzt). Nach der vierten Runde gibt es eine Wertungsrunde für die Anzahl der ausgelegten Personenkarten, Summe der gebauten Kanalplättchen und der Einflussleiter im Rathaus. Nur der/die Führende darf nun seinen jeweiligen Mehrheitenmarker umdrehen und am Ende vier Punkte darüber erhalten. Sobald ein/e Spieler/in den dritten Bedrohungsmarker einer Farbe erhält, muss er sofort die auf der Rückseite aufgedruckte Bedrohung ausführen. Am Spielende zählen die ausgelegten Häuser, die ausgelegten Personen, die umgedrehten Mehrheitenmarker, die erreichten Stufen der Kanalplättchen, der Einfluss im Rathaus und die Sonderfunktionen der Personen mit den Lorbeerkränzen.

Gesamteindruck
Die Stadt Brügge scheint ein kleines Städtekleinod in Europa zu sein. Sowohl der Film "Brügge sehen … und sterben?", als auch in David Mitchells "Der Wolkenatlas" singen ein wahres Loblied auf den mittelalterlichen Stadtkern. Im letzteren schreibt die fiktive Romanfigur seinem Freund: "Verliere dich in dieser Stadt: sieche Straßen, blinde Kanäle, schmiedeeiserne Tore, ausgestorbene Höfe – darf ich weitermachen? Ach, natürlich darf ich –, gotische Häuser mit panzernen Spitzdächern so hoch wie der Ararat, unkrautbewachsene Backsteintürme, mittelalterliche Erker, Fenster mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, Pflastersteinstrudel, die magisch deinen Blick ansaugen ...".

Stefan Feld war, wie er im Interview der Ausgabe 104 der Fairplay zugab, niemals in Brügge. Den Part, die Stadt visuell im Spieldesign umzusetzen, kam dem Illustrator Michael Menzel zu, was dieser grandios erledigt hat. Besonders hervorzuheben ist, dass es sich der Verlag geleistet hat, 165 verschiedene Personenkarten individuell designen zu lassen (ob Menzel dabei auf das Aussehen von real existierenden Personen die man kennen könnte, zurückgriff, rätsel ich noch immer – sollte mir jemand da einen Hinweis geben können, wäre ich sehr dankbar!).

Genauso wie "Die Tore der Welt" ist Brügge ein "Knappheitsverwaltungsspiel", in welchem die Spielenden in jeder Runde das jeweils Beste aus den gerade vorhandenen Möglichkeiten machen müssen. Wer letzteres bei "Die Tore der Welt" reizvoll fand, dem könnte auch Brügge gefallen – muss es aber nicht, sie sind doch zu unterschiedlich. Die immer neuen Situationen ergeben sich aus dem Nachziehen der Personenkarten. In jeder Runde müssen sich die Spielenden entscheiden, wie sie ihr Karten am Besten einsetzen, nur bei der Wahl der Häuserfarbe gibt es die Möglichkeit mögliche Akzente zu setzen.

Ein Spiel mit hohen Glückskomponenten
Aus meiner Sicht kritisieren Vielspieler zu Recht an Brügge die hohen Glückskomponenten. Zwar haben Glückspilze gegenüber erfahrenen Brügge-Spielern aus Stefan Felds Sicht keine Chance, aber ein erfahrener Spieler wird gegenüber einem ebenbürtigen Spieler mit Glück keine Chance haben, zu Hoch ist der Glückanteil beim Nachziehen der Personen und auch der Spielkartenfarbe. Wenn ich Pech habe, dann bekomme ich mehrere Runden lang meine dringend benötigte Häuserfarbe nicht (und muss dann versuchen, diese über Personenzusatzaktionen noch irgendwie zu erhalten), wenn ich in den letzten beiden Runden großes Glück habe, dann erhalte ich gegen Spielende genau die richtigen Personen, mit denen ich in der Endwertung in Kombination mit meinen anderen Personen richtig Punkte absahnen kann (oder zu Spielbeginn Personen, durch die ich das ganze Spiel über zusätzliche Benefits erhalte). Tritt letzteres ein, so hat dieser Glückspilz den anderen gegenüber einen enormen Vorteil. Für Vielspieler ist dies ärgerlich, da man eben nicht alles selbst in der Hand hat. Dass Vielspieler trotzdem für einige Partien auf ihre Kosten kommen, liegt vor allem an dem Reiz, immer versuchen zu müssen, aus dem aktuell Vorhandenen das Beste herauszuholen - dafür muss alles immer wieder überdacht werden, die eingeschlagene Strategie möglicherweise wieder geändert werden und auch mal durchgerechnet werden, welche Spielzüge sowohl kurz- als auch Langfristig die Punkteträchtigsten sind.

Gerade dieses Durchrechnen und der Zwang, immer wieder alles neu bewerten und durchdenken zu müssen, welches zum Ende des Spiels immer mehr zunimmt, kann mit Grüblern am Tisch das Spiel zum Teil sehr anstrengend machen und vor allem in die Länge ziehen – aber auch ohne sie sollte man statt der angegebenen 60 lieber mit 90 Minuten Spieldauer rechnen. Eine Spieldauer, die aber bei der Mischung aus Glücks- und Taktikkomponenten für Brügge genau richtig ist. Und weswegen auch Vielspieler eben immer noch einmal zu einer Partie zu gewinnen sind. Meine Mitspielenden waren an einer erneuten Partie fast immer interessiert, nur ganz wenige konnte mit Brügge nichts anfangen. Gelegenheitsspielern sollte man Brügge dagegen nicht vorsetzen. Die jeweils individuellen Texte auf den 165 Personenkarten überfordern Menschen, die nicht regelmäßig spielen, das Ineinandergreifen der vielen Aktionsmöglichkeiten pro Runde ebenso.

"Wenn ich auf einem Bauernhof aufgewachsen wäre..."
Redaktionell unglücklich gemacht ist die Handhabung beim Nachziehen der Häuserkarten vom Nachziehstapel. Auch wenn alle Spielenden sehr aufpassen, kommt es doch immer wieder vor, dass sich die übereinanderliegenden Karten auf dem Stapel verschieben und die darunterliegende Kartenfarbe sichtbar wird. Da der Farbe der nachziehenden Karten enormes Gewicht zukommt, kann dies für einen Spieler einen großen Vorteil bedeuten. Der Verlag will diesem Problem bei einer Neuproduktion mit Kartenboxen begegnen. Vielleicht kann ja bei dieser Gelegenheit auch noch eine Lösung dafür gefunden werden, dass man bei einer Runde mit vielen Zusatzaktionen hin und wieder vergisst, die eine Karte pro Runde auszuspielen und dann bei Spielrunde darüber grübelt, ob man die letzte Karte eigentlich hätte spielen dürfen oder nicht.

In "Brügge sehen ... und sterben?" gibt der Auftragskiller Ray seinem Partner gegenüber schnell zu verstehen, was er von Brügge hält: "Wenn ich auf einem Bauernhof aufgewachsen und geistig zurückgeblieben wäre, dann würde Brügge mich beeindrucken. Aber das bin ich nicht, also tut´s das nicht." Diesen Satz auf das Spiel umgemünzt, könnte heißen: "Wenn ich ein spielinteressierter Mensch wäre, der vor 10 Jahren in ein künstliches Koma versetzt worden wäre, ja dann wäre für mich Brügge eine Offenbarung, da ich es aber nicht bin ...". Scherz beiseite, Brügge ist bestimmt nicht schlecht, aber mittlerweile muss ein Spiel mehr besitzen, als eine gut in sich greifende Spielmechanik und ein liebevoll gestaltetes Design. Bei mir will jedenfalls kein richtiger Funken überspringen, das liegt einerseits an den schon angesprochenen Glückskomponenten, zum anderen, weil mir das Thema zu aufgesetzt und beliebig vorkommt – Brügge könnte eben genauso gut Amsterdam, Nürnberg oder Córdoba heißen.

Fazit
Eine Partie Brügge mit einer entscheidungsfreudigen Spielerunde macht Spaß. Dieser Entfaltet sich vor allem daraus, dass man ständig neu entscheiden muss, wie man das Beste aus den aktuell gezogenen Karten, Ressourcen und der Mitspielersituation macht. Für einige Spiele kann man da das hohe Glücksmoment des Kartennachziehens verschmerzen, welches dem Spiel innewohnt. Ein Dauerbrenner ist es aber nicht, zu beliebig ist das Spielthema auf den Spielmechanismus aufgesetzt worden, so richtig will der Funke nicht überspringen.



29. Juli 2013 - (jd)

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